Seit der Lancierung des iPhone 2007 ist das Smartphone für viele zum unverzichtbaren Helfer im Alltag geworden. Einkäufe können wir jederzeit und überall bequem übers Handy tätigen. Dank Tracking- und Same-Day-Delivery-Service können wir die online eingekauften Produkte auf ihrem Weg zum Empfänger verfolgen und am Ort unserer Wahl in Empfang nehmen. Auch die Cloud ist omnipräsent: Viele mit dem Smartphone geschossene Fotos landen automatisch in der Cloud, unsere Agenden sind in der Cloud; um Termine zu vereinbaren und Daten zu übertragen, nutzen wir Cloud-Services. Bald jeder Equipment-Hersteller gibt dem Käufer zusammen mit dem Produkt im Package eine cloudbasierte App mit einer zusätzlichen Funktionalität, die dem Kunden einen Zusatznutzen generiert. Beim Kauf eines USB-Sticks bietet der Hersteller einen Cloud-Service, der die auf dem Stick gespeicherten Daten automatisch auch in der Cloud speichert. Für den Fall, dass der USB-Stick abhanden kommt oder nicht mehr funktionsfähig ist, hat der Kunden seine Daten immer noch in der Cloud verfügbar. Mobile Computing und die Cloud sind Trumpf.
Wird die Kundenbeziehung definitiv entpersonalisiert?
Viele dieser Mobile-Computing- und Cloud-Services figurieren unter dem Begriff User-Self-Service. Den Unternehmen, die diese Dienste anbieten, geht es um die Externalisierung von Kosten. Die kostenverursachenden Prozesse werden unter Nutzung von digitaler Technologie auf den Kunden ausgelagert. Damit angefangen hat die Flugindustrie, initialisiert durch den über den Preis geführten globalen Wettbewerb. Heute kann der gesamte Prozess vom Buchen der Flüge bis zum Web-Check-in via Handy im User-Self-Service vorgenommen werden. Im Mass, wie die Unternehmen Effizienz und Produktivität steigern, führt das Mehr an User-Self-Service dazu, dass der persönliche Kundenkontakt verloren geht.
Übergang vom persönlichen Kundenkontakt zur Selbstbedienung
Wie Kundenorientierung vor der Erfindung des Internets funktioniert hat, etwa im Detailhandel der 50er- und 60er-Jahre, ist bekannt. Im Einzelhandelsgeschäft basierte der Kundenfokus auf dem persönlichen Kennen jedes einzelnen Kunden. Diese Kenntnis ging weit darüber hinaus, die Kunden mit Namen persönlich begrüssen und verabschieden zu können. Die wirtschaftlichen Nachteile von Einzelhandelsgeschäften waren die hohen Personalkosten und die begrenzten Öffnungszeiten, was auch die Hauptgründe sind für ihren schleichenden Niedergang und den damit verbundenen Verlust der persönlichen Kundenbeziehung.
Mit dem Aufkommen der grossen Detailhandelsunternehmen mit Geschäftsstellen landesweit und dem Übergang zum Prinzip der Selbstbedienung kamen die wirtschaftlichen Vorteile von Grossunternehmen zum Tragen. Mit der Nutzung von Skaleneffekten, Standardisierung und Automation konnten die Personalkosten gesenkt werden. Verkäuferin und Verkäufer im Einzelhandelsgeschäft, meist die Inhaber selbst, wurden durch den Übergang zur Selbstbedienung überflüssig und wichen den Angestellten, die die Waren in die Gestelle einräumten und den Kassierinnen, die den eingekauften Warenkorb abrechneten und das Geld einzogen. Den derzeitigen Spitzenplatz bei der Umsetzung des Selbstbedienungsprinzips bildet die am 22. Januar 2018 von Amazon neu eröffnete Ladenkette "Amazon Go": die ersten Läden ohne Kasse. Die Erfassung der eingekauften Waren wird über Kameras und eine Kombination unterschiedlicher Sensoren bewirkt, die einen Algorithmus füttern, der erkennen soll, welche Produkte die Kunden aus den Regalen nehmen oder wieder zurückstellen. Die Shops werden mit minimalem Personalaufwand betrieben und die Kunden können ihre Einkäufe tätigen ohne Interaktion mit dem Personal. Wird das Einkaufen ohne zwischenmenschliche Kontakte zum neuen Standard im Digitalzeitalter?
Der Ruf nach Tante Emma
Das kontinuierliche Sammeln von Informationen über den Kunden und seine Bedürfnisse, das im Einzelhandelsgeschäft über das persönliche Kundengespräch lief, ist durch systematisches Sammeln von Informationen in digitaler Form abgelöst worden. Retailer erfassen und bewirtschaften die Bedürfnisse ihrer Kunden automatisch und digital. Was heute die grossen Retailer und globale Akteure wie Google, Amazon und Facebook über uns wissen, ist fast unvorstellbar. Der "gläserne" Kunde ist Tatsache geworden. Der Gedanke ist beängstigend, dass wir nur noch als eine Kundennummer mit einem umfangreichen Datensatz in einem CRM-System behandelt werden, nur noch mit Selbstbedienungsterminals zu tun haben und über das Internet mit Apps und Chatbots kommunizieren. Wir sehnen uns nach dem Einkaufserlebnis im Tante-Emma-Laden mit einem persönlichen Gespräch auf Basis einer nachhaltigen und empathischen Kundenbeziehung. Der Ruf nach der "Tante Emma" ist im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung immer deutlicher hörbar.
Kundenorientierung im Digitalzeitalter – Wunsch und Wirklichkeit?
Eigentlich wissen wir, worauf es bei der Kundenorientierung ankommt. Die propagierten Patentrezepte zur "Kundenorientierung" sind: Customer Experience, Schaffen von Erlebniswelten, Verkaufen mit Emotionen, Event-Marketing, Nutzung von Social Media, Multichanneling etc. Die Frage ist nur: Wie entwickelt man nachhaltige persönliche Kundenbeziehungen im Digitalzeitalter? Wir haben eben festgestellt, dass der Trend in die entgegengesetzte Richtung läuft, Richtung Entmenschlichung der Kundenbeziehung. Wir gehen der Frage nach, wie eine Trendumkehr bewerkstelligt und der Ruf nach "Tante Emma" eingelöst werden kann und wie es gelingt, in einer vom User-Self-Service geprägten Welt nachhaltige empathische Kundenbeziehung aufzubauen und erfolgreich zu unterhalten. Gibt es entsprechende Case Studies mit Success Stories, die zeigen, wie es geht?
Case "Sweetwater"
Gegründet 1979, ist Sweetwater heute ein global anerkanntes Online-Musikinstrumente-Handelsunternehmen mit Sitz im US-amerikanischen Fort Wayne, Indiana. 2017 beschäftigte das Unternehmen 1255 Mitarbeiter und machte einen Umsatz von 619 Millionen US-Dollar. Der phänomenale Aufstieg des Unternehmens basierte auf einer fachkundigen Belegschaft und einer Passion für Musik sowie einem unerschütterlichen Engagement für "Customer Service Excellence" in jeder Situation. Von der ausgeprägten Kundenorientierung zeugen diverse Auszeichnungen und Prämierungen von verschiedenen Fachorganen. Durch eine zukunftsgerichtete Social-Media-Strategie und die aktive Nutzung von Social-Media-Kanälen für den Aufbau und die Pflege von persönlichen Kundenkontakten mehren sich in jüngster Zeit auch die Reviews von zufriedenen Kunden, die ihre persönliche Erfahrung über den ausgezeichneten Kundendienst mit einer Fünf-Sterne-Bewertung zum Ausdruck bringen. Dem Sweetwater-Team ist es, gestützt auf die Maxime "Customer First", in den letzten Jahren gelungen, über die aktive Nutzung aller verfügbaren digitalen Kanäle auf jeden einzelnen Kunden persönlich einzugehen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, auch wenn dieser 10 000 Kilometer weit entfernt war. Aus den zahllosen Review-Kommentaren geht hervor, dass Sweetwater-Kunden den Eindruck haben, der Sweetwater Sales Engineer sei ein echter Freund und persönlicher Berater ohne Eigennutz und Sweetwater sei das Musikfachgeschäft in der Nachbarschaft mit Tante-Emma-Charme.
Emma 4.0 Fähigkeiten machen es möglich
Der Ruf nach der Übertragung des Erfolgsmodells "Tante Emma" ins Digitalzeitalter ist – wie das Beispiel zeigt – machbar. "Tante Emma" wird im Digitalzeitalter als Emma 4.0 wiedergeboren: Damals wie heute steht das Rollenmodell für eine nachhaltige persönliche und empathische Kundenbeziehung. Was "Emma 4.0" vom Original unterscheidet, sind rund 60 Jahre Technologieentwicklung, das heisst die dritte und die jetzt laufende vierte industrielle Revolution. Unternehmen können für die Entwicklung von Emma-4.0-Fähigkeiten alle Digitaltechnologien nutzen, um persönlich auf die Kunden eingehen zu können. Clevere Unternehmen haben eine grosse Chance, wenn sie nicht nur auf Effizienz- und Produktivitätsgewinn setzen, sondern in Digitaltechnologien investieren, die auf eine empathische Ebene zum Menschen hinter der Kundennummer führen und auf individuelle Menschen ausgerichtete persönliche Kundenbeziehungen ermöglichen. Es ist das Bestreben, die Kunden auch digital wieder persönlich bedienen und gut beraten zu können. Hauchen Sie ihrem Unternehmen "Emma-4.0-Fähigkeiten" ein.